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Zwischenruf: Winterwanderung Teil 2

Diese frühen Morgenstunden, in denen die Dämmerung, unterstützt durch einen viel verschluckenden Hochnebel, Strommasten, Zugstrecken am Horizont, Einfamilienhäuser in den kleinen Dörfern, also die meisten Errungenschaften moderner Zivilisation vor dem Auge verborgen hält, erlauben immer wieder einen Blick durch das Fenster der Zeit. Die gefrorenen Felder, die Waldränder, die kleinen Haine, das hat das Auge zu ähnlicher Stunde auch vor hunderten von Jahren hier so gesehen.


Der Morgen am Tag vor dem vierten Advent im Jahr 509 nach Christus. Eine bewegte Zeit. Eine Zeitenwende. Vor noch nicht einmal 50 Jahren waren die Felder, über die der Wanderer jetzt durch den Nebel stapft, noch belebte Lagerstätten, durchzogen von gefestigten Ausfallstraßen. Er kann sie im fahlen Licht nicht sehen, aber am Horizont rechts von ihm, Richtung Flussufer stehen noch immer die Wohnsiedlungen der Soldaten, die Villen der Gouverneure, die Reste der großen Stadt Carnuntum.

Auch 1.500 Jahre später heißt die Ortschaft an der Stelle noch so – aber einst beherbergte sie über 50.000 Menschen. Der Großvater des Wanderers war noch mit einem der letzten Stadtkommandanten bekannt. Jetzt sind sie fort.

Nicht alle wahrscheinlich. So mancher der römischen Soldaten wird sich hier niedergelassen haben. Er ist vielleicht ohnehin hier geboren, immerhin war diese östlichste Garnisonsstadt am Limes fast 300 Jahre lang der wichtigste und größte Posten an diesem Rand des Reiches. Hauptstadt der Provinz, Grenzstadt, Handelsplatz. Der große Triumphbogen a südlichen Eingang zeugt von der Blüte dieser frühen Metropole.

Jetzt sind sie fort. Aber was haben sie hinterlassen. Stehen die Villen nun leer und warten auf den Zerfall? Wurden sie gleich von den ersten Horden der Hunnen zerstört oder haben Einheimische sie bezogen? So viele Einheimische gibt es hier gar nicht, denkt sich der Wanderer. Er mag vielleicht ein Bote sein oder ein reisender Barde, der in den Ortschaften Neuigkeiten aus den angrenzenden Regionen kundtut.

Er stapft durch den kalten Wind. Begleitet wie immer von seinem Hund. Sie kommen an eine Weggabelung und es steht zu entscheiden, welche Richtung sie einschlagen sollen. Wo mag das nächste Gehöft liegen? Wo wird man ihm die Türe öffnen und einen Schluck warmer Milch und ein Brot mit ihm teilen. Die Entscheidung ist wichtig. Schneefall hat eingesetzt, der Wind nimmt an Stärke zu und wird kälter. Seine Kleider, sein wollener Mantel sind nass und gefroren. Er braucht eine Bleibe, bald. Der Hund ist vorausgeeilt und der Wanderer schließt sich ihm an. Die feine Nase hat ihn noch nie im Stich gelassen und sie wird ihm auch heute den richtigen Weg zeigen.

Seine Gedanken schweifen wieder zum Großvater. Zu dessen Erzählungen. Von beleuchteten Straßen, von Bädern mit warmem Wasser, das aus den Wänden in große Becken fließt. Von den Händlern auf dem riesigen Marktplatz, die in tausenden Sprachen Waren aus weit entfernten Ländern gegen hiesige tauschten. Von den Predigern und von den Rüstungen- Und von den vielen Menschen. Mehr Menschen auf einem Platz, als der Wanderer in seinem ganzen Leben getroffen hat.

Jetzt sind sie fort.
Kaum die Spanne eines Menschenlebens ist seither vergangen, denkt der Wanderer. Er hat dies schon oft gedacht und er bedauert, so kurze Zeit zu spät gekommen zu sein. Und dennoch: viel zu entdecken gibt es, viel zu erzählen. Bewegte Zeiten. Zeitenwende.

Nach knapp fünf Stunden und ebenso durchgefroren wie angenehm frisch durchgepustet kommen Brooklyn und ich wieder zu Hause an. Ein feines Rührei und heißer Kaffee tauen mich auf. Elektrischer Herd, Licht, eine pudelwarme Wohnküche – sehr schön. Aber der frühe Nebel und der beißende Winterwind – auch: wunderschön. Wünsche allen einen gesegneten vierten Advent!

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