Besonders nachhaltig bewegt haben mich die Aussagen und Erzählungen der Schauspielerin und Co-Gründerin des Festivals Sandra Selimovic. Da ist einerseits die zwischen Verzweiflung und Resignation oszillierende Wahrnehmung des Nicht-Wahrgenommen-Werdens, wenn beispielsweise eines der renommiertesten Theaterhäuser Europas ein Stück mit besonders diversem Ensemble auf die Bühne bringt – lobenswert – und dann zum Round-Table Pressegespräch neben den weißen Mitgliedern des Casts zwar zwei Schwarze Darsteller:innen einlädt, aber nicht mal erwähnt, dass sie, Sandra, die erste Romnj ist, die überhaupt auf dieser Bühne spielt.
Gleichzeitig das Leiden darunter, dass wenn eine Romnj oder ein Rom einmal öffentlich wahrgenommen werden, es stets um die Exzellenz geht, nach dem Motto, „seht her, was sie erreicht hat, obwohl….“ Dann aber auch wieder der Schmerz, wenn in der Öffentlichkeit stehende Künstler:innen das Label „Romn:ja“ sozusagen als Marketing nutzen, oder aber – ebenso schmerzhaft empfunden – ihre Zugehörigkeit zu den Roma verschweigen.
Im Grunde fühlt sich alles verkehrt an, ein Empfinden von Zerrissenheit, das Meschen, die wie ich, das unverdiente Privileg haben, zufällig zu einer „Mehrheitsgesellschaft“ zu gehören, kaum erahnen können. Sandra Selimovic hat es gestern Abend spürbar gemacht – ganz ohne Drama.
Die Frage, die sich für mich – neben vielen andere, wie zum Beispiel der, wie es Rom:nja denn gelingen könnte, Künster:in oder auch nicht, sichtbarer und wahrnehmbarer zu werden – eine Frage also, die mich über Nacht beschäftigt, ist die, woher es diesen Druck gibt, überhaupt einer Gruppe zugehörig sein zu müssen. Warum ist die Gesellschaft so versessen darauf Labels zu vergeben und warum sind wir Individuen immer wieder so hinterher, uns einem Label, einer Schublade zuzuordnen.
Mir ist bewusst, dass jemand wie ich, sich leicht tut, zu sagen, er brauche diese Gruppenzugehörigkeit nicht. Klar, wenn man zufällig zu einer „Gruppe“ von rund 100 Millionen deutschsprachigen Weißen im zufällig reichsten Teil der Welt gehört. Wobei ich als Berliner – seinerzeit auch „Saupreiß“ betitelt – der in Bayern aufwuchs, zumindest etwas nachfühlen kann, was es heißt, ausgegrenzt oder mit Steinen beworfen zu werden. Auch wenn das natürlich nur mäßig vergleichbar ist. Ich hab aus dieser Erfahrung aber auch miterlebet, wie es (mindestens) zwei Arten gibt, damit umzugehen. Während ebenfalls „Zuagreiste“ Freunde oder mein Bruder als Teenager alles darangesetzt haben, zur lokalen Mehrheitsgesellschaft dazuzugehören, sei es allein durch Verinnerlichung des bajuwarischen Dialekts, hatte ich die gegenteilige Strategie gewählt, mich bewusst von allen Gruppierungen abzusetzen. Mich anders zu kleiden, als die anderen Jungs, andere Hobbies zu haben usw.
Aber ich schweife ab.
In der Diskussion gestern ging es einige Zeit auch um die Frage, ob Kunst, die von Rom:nja kreiert wird, sei es Musik oder bildende, per se Roma-Kuns ist. Ob sie das sein muss oder sein sollte. Gilda-Nancy Horvath brachte dazu den spannenden Gedanken ein, dass das in der Hand der Künstlerin liegen sollte. Sie selbst habe etwas zwei künstlerische Identitäten, eine als die sie Poems und Rap in Romanes verfasst und darbietet, weil sie explizit der Kulturgeschichte ihrer Ethnie Spuren hinterlassen möchte und eine, in der sie abstrakte Theaterstücke schreibt, die nichts mit ihrer Herkunft, Geschichte, noch nicht mal mit ihrer Genderzugehörigkeit etwas zu tun hätten.
Ein Konzept der völlig freien Kunst, das etwa die Digitalwissenschaftlerin und Mitbegründerin des Save Space e.V., Roxanna-Lorraine Witt, als zwar schöne aber unrealistische Utopie sieht, da es unmöglich sei, einerseits Kunst völlig von der eigenen Geschichte losgelöst zu erschaffen und andererseits diese vollkommen Label-frei zu verbreiten.
Label war auch ein Begriff, der in einer sehr offenen Wortmeldung des rumänisch-österreichischen Komponisten und Pianisten Adrian Gaspar eine zentrale Rolle spielte, als er berichtete, dass ihm als Jugendlicher mit seiner ersten Band das Label „#Gypsy-Musik“ und „Gypsy-Musiker“ durchaus genutzt hat, um Publikum, Wahrnehmung und auch Anerkennung zu bekommen. Jahre später hat er versucht, sich davon zu befreien, da er Musik gemacht hat und noch immer macht, die gar keinen direkten Bezug zur Romakultur hat und schon gar nicht dem Klischee von z.B. „Gypsy-Jazz“ entspricht. Wobei er sich bis heute stets fragt, ob es trotzdem „#Roma-Kunst“ sei, da er als Rom sie ja erschafft. Er ist das Label aber nicht losgeworden. Es wurde ihm, egal welche Stilrichtung er dargeboten hat, stets angeheftet. Heute, erzählte er, nutze er das Label wieder aktiv, nach dem Motto, wenn man mich eh immer in die Schublade steckt, dann will ich einerseits zumindest etwas davon haben und andererseits es benutzen, um eben der Roma-Community insgesamt zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Dass er das beinahe wie ein Geständnis vortrug, zeigt die Ambivalenz, die der Umgang mit diesen Labeln vor allem für die „Gelabelten“ mit sich bringt.
Wer vergibt also diese Schubladenzuweisungen? Aus der historischen Anthropologie wissen wir, dass wir als Menschen dieses Verhalten, andere zu Kategorisieren evolutionär entwickelt haben, da es für unsere Vorfahren ein Überlebensvorteil war, schnell zwischen Freund und Feind, Gefahr und Entspannung enzscheiden zu können. Aber wie ist das heute? Wer sind die Gatekeeper.
Unter dem Themenaspekt „Medien“ des erschien mir eine Überlegung von erneut Gilda sehr bedenkenswert: #Wikipedia. Das selbsternannte Weltlexikon, dass allgemein als besonders objektiv wahrgenommen wird (Sidebar: es ist es natürlich nicht). Hier gilt unter anderem die Regel, dass niemand Artikel über sich selbst eintragen oder bearbeiten darf. Das soll verhindern, dass Wikipedia eine Selbstinszenierungsplattform wird, was durchaus nachvollziehbar ist. Gleichzeitig bedeutet das, dass hier die Erzählung über zum Beispiel Personen (von öffentlichem Interesse) per Definition in der Hand anderer liegt. Und „anderer“ ist im Bezug zum Beispiel auf die Roma-Community wörtlich zu nehmen. Denn das maßgebliche Kuratorium von Wikipedia besteht no na aus mehrheitlich weißen (älteren) Männern.
Wie könnte ein besseres Konzept aussehen? Wie könnte ein zeitgemäßeres Konzept einer Viennale – auch das noch ein Gedanke von Gilda – aussehen anstelle einer Repräsentation von Nationalstaaten, was so gar nicht zu einer progressiven Kunstwelt des 21. Jahrhunderts passen will?
Um solche vertiefenden Fragen zu verfolgen, reichte die Zeit natürlich nicht. Auch so waren es über zwei Stunden voller Denkanstöße und Einsichten, die das Publikum mit nach Hause und ins Leben nehmen konnten.
Fazit: eine Runde wie diese, leider viel zu oft abgetan als im Wortsinn „Minderheitenprogramm“ (nämlich auch in Bezug auf das Publikumsinteresse), sollte einen Platz im Hauptprogramm öffentlich rechtlicher Sender haben, nicht nur auf Bühne 3 des Dschungel Wien (Theater in Wien, Anm.). Es würde unsere Gesellschaft bereichern.
Den Veranstalter:innen und Teilnehmenden danke ich daher umso mehr für den inspirierenden Abend.
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