Direkt zum Hauptbereich

Leseprobe: "Im Kaffeehaus" & "Barbershop-Spiel"

Im Kaffeehaus

Adam blickte aus dem Fenster des Kaffeehauses, gegen das auch jetzt große, wuchtige Regentropfen prasselten. Er verfolgte sie auf ihrem verwirrenden Weg die Scheibe hinunter, dann beobachtete er die Rinnsale, die sich draußen auf dem Gehweg und auf der Straße bildeten, bis sie in einem Gully verschwanden. Es schien, als suche er seine weggeschwemmten Gedanken von damals.

Mirijam beobachtete ihn still, ohne ihn zum Weiterreden zu drängen. Ihr Blick folgte dem seinen, auch sie ließ ihn eine Weile ruhen auf den Flüssen und Strömen, die sich en miniature auf dem Glas bildeten. Dann betrachtete sie wieder sein Gesicht. Er hatte sich in über 15 Jahren auf den ersten Blick nicht sehr verändert. Sie versuchte sich Bilder aus ihrer gemeinsamen Zeit vorzustellen, und zu vergleichen. Vielleicht lag es daran, dass er schon mit Ende zwanzig älter gewirkt hatte. Nicht körperlich, aber seine Ausstrahlung hatte immer etwas ruhiges, seriöses, sehr Erwachsenes gehabt. Sie musste schmunzeln. Nur zu gut wusste sie, wie sehr sein Vernunft geprägtes Erscheinungsbild seinem wirklichen Wesen widersprach. Sie kannte kaum jemanden, der sich seine kindlichen Träume, seine klare Vision von Glück, so unverfälscht erhalten hatte, wie Adam. Und wiederum kaum jemanden, der so darunter litt, dass Vorstellung und Wirklichkeit so gar nicht zusammenpassen wollten. Dass Lebensplan und Lebensweg beinahe diametral auseinander zu laufen schienen. Oder gar parallel, ohne die Chance sich je zu berühren.

Er hatte ihr einmal erzählt, dass er zu der Überzeugung gelangt sei, die Zukunft beeinflussen zu können. Sobald er sich von etwas eine konkrete Vorstellung machte, könnte man gewiss sein, dass genau das nicht passieren würde. Er habe sogar schon darüber nachgedacht, ob er diese Gabe nicht zum Wohle der Menschheit einsetzen könnte. Bräuchte er sich doch zum Beispiel nur den dritten Weltkrieg in allen Details genau auszumalen und man könne davon ausgehen, dass es diesen Krieg niemals geben würde.

Sie hatte von Anfang an ein Faible für seinen feinen Zynismus gehabt und sich damals köstlich über diese absurde Vorstellung amüsiert. Heute war sie sich nicht mehr sicher, ob er es nicht einfach Wort wörtlich so gemeint hatte.

Sie saßen schon eine ganze Weile in dem Kaffeehaus, das, wie viele andere in Wien, den Charme eines Ortes, der erkennbar schon bessere Zeiten gesehen hatte, geradezu provokant ausspielte. Adam erzählte nur sehr sporadisch kurze Episoden, zwischendurch immer wieder in Gedanken versinkend. Aber sie hatte keine Eile. Sie genoss es, die Atmosphäre fast körperlich spürbarer Vergangenheit zu inhalieren und ihren Gesprächspartner zu beobachten. Sie hatten sich sehr lange nicht gesehen und sie suchte mit spielerisch sportlichem Ehrgeiz nach den kleinen und größeren, den deutlichen und den fast unsichtbaren Zeichen der Zeit in seinem Gesicht, seinen Händen. Sie fand und registrierte genau die kleinen Narben, deren Ursprung sie sich vorzustellen versuchte, während sie aus seinen Erzählungen die Quellen der größeren Narben heraushörte.

In der Mitte des hohen Raumes, dessen Stuck verziertes Firmament von einem gewaltigen Kristalllüster dominiert wurde, standen und saßen drei Musiker. Ein wenig eingezwängt, zwischen einer Ziersäule aus künstlichem Marmor, einem hoch gewachsenen Fikus und der Rückwand des mittig im Raum platzierten Kuchenbuffets, spielten ein Pianist, ein Geiger und ein Kontrabassist einen breiten Mix aus den unvermeidlichen Wienerwalzerklassikern von Vater und Sohn Strauss, aus mal mehr, mal weniger passenden internationalen Jazzstandards und volksmusikalischen Auszügen aus der reichlich gefüllten Schatulle der böhmisch-mährischen, K&K österreichischen und ungarischen Tradition.

All das überzuckerten sie mit einer dicken Glasur aus musikalischem „Wiener Schmäh“, dieser besonderen Art hörbarer Gelassenheit, bei der man immer ein wenig das Gefühl hat, es kämen alle Einsätze etwas zu spät, dann aber doch gerade noch rechtzeitig – was in Wien für Kellner wie für Musiker gleichermaßen zutrifft. Ausgeglichen wurde diese kunstvolle Schleißigkeit durch die virtuose Verspieltheit, die sich nur Zigeunermusiker erlauben können, ohne aufdringlich zu wirken, da sie es verstehen, ihr Können mit einem legeren Selbstverständnis zu präsentieren, dass es gar nicht weiter auffällt.

Auf diese Weise wurde aus der bunt zusammengemischten Melange unterschiedlichster Musik- und Stilrichtungen ein gleichmäßiger, durchaus angenehmer Klangteppich, in dem sich Donauwalzer, „Dritter Mann“ und Gershwin so nonchalant miteinander verwoben, als seien sie ein und demselben Komponisten irgendwo in einer Stube in der Herrengasse aus der Feder geflossen.

Das ganze tonale Webstück passte zu diesem Kaffeehaus und zu Wien im Allgemeinen genauso vollkommen, wie der überdimensionierte Lüster an der Decke oder der penetrant unfreundliche Kellner.

„Es waren nicht einmal schlechte Gedanken in mir,“ fuhr Adam fort. „Lustig, dass man unter ‚gedankenlos’ eigentlich so etwas wie unachtsam versteht. Ich war damals im wahrsten Sinne gedankenlos....

Barbershop-Spiel

„Ich habe gestern die Aufnahme gehört von die Rosenberg Jimmy,“ begann Anton, kaum dass sie das Ortsgebiet von Pecs verlassen hatten, das Spiel, das Adam als „New-Yorker-Juden-im-Barbers-Shop“ bezeichnete, da ihn das Wetteifern der Musiker, um das umfassendste und beste Wissen über die herausragendsten Musiker der Jazzwelt und deren höchste Leistungen, mit dem sie sich oft Stundelang beschäftigen konnten, regelmäßig an Szenen aus amerikanischen Filmen erinnerte, in den drei oder vier alte Männer, meist jüdische Pensionisten in grauen Anzügen, beim Barbier oder auch in einem einfachen Cafe sitzen und sich mit sportlichen Sternstunden und deren Protagonisten zu überbieten versuchen.

„Wo er spielt in Carnegie Hall zusammen mit Les Paul und George Benson. Ist von 1998. Ich sage, da er spielt die beste Solo, dass er hat gespielt in seine Leben. 12 Minuten 22 Sekunden. Jede Sekunde nur aus Gold.“

Meistens, je nach Stimmung, schaltete Adam bei diesen Wortgefechten entweder nach kurzer Zeit auf Durchzug und nahm die Diskussionen um Höhepunkte und Legenden, die auch mit einem guten Maß mit Musikerlatein durchsetzt waren, nur mehr als eine Art Hintergrundrauschen wahr. Manchmal aber, juckte es ihn, und dann stieg er in die Auseinandersetzungen mit ein, versuchte dabei ebenso übertrieben ernsthaft zu bleiben, wie seine Reisegefährten und mittlerweile gelang es ihm sogar ab und an in diesen Runden einen Stich zu machen, worüber er sich – zu seinem eigenen größten Erstaunen – tatsächlich stundelang geradezu kindlich freuen konnte. So oder so war das ganze eine höchst kostengünstige und simple Art, lange Reisestrecken kurzweilig zu gestalten.

Antons Eröffnung war ein eher konservativer, fast harmloser Anfang, ohne Risiko. Das zeigte schon die Erwähnung von Les Paul und George Benson in einem Atemzug. Jeder allein gilt unter Jazzmusikern schon als eine Art Joker. Unantastbar, unschlagbar. Aber wer spielt schon gleich zwei Joker beim ersten Zug aus?

„Ja ich kenne Aufnahme“ begann Andreasz seinen Gegenzug. „Ist nicht schlecht. Aber ich muss Dir einmal geben Mitschnitt von Konzert, das er hat gegeben für ungarische Rundfunk 1991. Eigentlich wundert, dass Du nicht kennst, weil da er spielt ganz bestimmt das Solo für die Götter. Ich weiss nicht wie lang es spielt, aber ich bin sicher, dass nicht ist möglich, aus eine Gitarre etwas besseres zu holen heraus. Erinnere mich, dass ich Dir mache eine CD Kopie, Tontschi. Du musst das hören. Adam, kennst Du diese Radioaufnahme?“
„Nein, leider, ich glaube nicht.“ Adam hielt sich noch bedeckt. Er hatte einen Trumpf im Sinn, aber er wollte ihn nicht zu früh ausspielen.

„Dann ich mache Dir auch CD,“ gab sich Andreasz gönnerhaft. „Ja gerne, danke.“ Adam wusste, dass er diese CD nie bekommen würde. Es gehörte zu den Regeln des Spiels, dass die Musiker sich gegenseitig versprachen, den scheinbar Unterlegenen mit CDs oder auch DVDs zu helfen, ihre vermeintlichen Wissenslücken zu schließen. Schon nach der nächsten Raststation würde jeder von ihnen die gegenseitig zugesagten Aufnahmen bereits wieder vergessen haben.

„Natürlich wir reden jetzt nur von akustische Gitarre.“ Tontschi, wie Anton von den meisten gerufen wurde, war noch weit davon entfernt, sich bereits geschlagen zu geben....

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Im Spiegelkabinett des David Holz oder wie wir in der K.I. uns selbst erkennen

Zugegeben, bezüglich der bildgenerierenden Künstlichen Intelligenz (K.I.) schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Das kreative ist begeistert, denn mit den Wort-Bild-Modellen wie Midjourney & Co bin ich als sehr visuell denkender Mensch plötzlich in der Lage, Dinge zu realisieren, die mir mangels zeichnerischen Talents oder photographischer Möglichkeiten bislang verschlossen blieben. So kann ich jetzt zum Beispiel meine Romane selbstständig illustrieren oder sogar als Comic realisieren und so ein ganz neues Genre erschließen.

Veröffentlichungen

Naked Identity Wer ist Aya K? Kiew : ein Videoclip trendet im Netz. Eine Handykamera hat den Sturz von einem Hochausdach gefilmt – in der Hand eines Videobloggers, der für seine rechtslastigen Triaden berüchtigt war. Schnell identifiziert die Öffentlichkeit auf den Aufnahmen die nicht weniger bekannte Aktivistin Aya Kowalenka alias „The Naked Gypsy“ als Täterin. Die streitbare Romni, im bürgerlichen Leben Wirtschaftsprofessorin, provoziert seit Jahren in der Tradition der Femen für die Rechte von Minderheiten und Frauen. Ist sie diesmal einen Schritt zu weit gegangen oder war es Notwehr? Während rechte Bürgerwehren demonstrieren, küren Gruppen aus ihrer eigenen Community sie zur Ikone eines Widerstandskampfes. Doch dann geht eine ehrgeizige Boulevardjournalistin mit einer Enthüllung auf Sendung, die alles wieder auf den Kopf stellt.  Kann ausgerechnet Bandmanager und Gelegenheits-informant Adam Wischnewski mit seiner Wiener Truppe die Verfolgte aus dem kochenden Hexenkessel heraush

Zwischenruf: Zehn Antworten zu den – laut Piraten Partei – „zehn wichtigsten Punkte einer Urheberrechtsreform“

Nachfolgend 10 Antworten auf die von der Piraten Partei aufgestellten „zehn wichtigsten Punkten einer Urheberrechtsreform“. Die kursiv geschrieben Textteile entstammen der Website der Piraten Partei, Stand 21.5.2012 (http://www.piratenpartei.de/2012/05/21/die-zehn-wichtigsten-punkte-einer-urheberrechtsreform/) Die Antworten spiegeln in Meinung und Wissen des Autors. 1. Verkürzung der Schutzfristen auf 10 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Die aktuellen Schutzfristen (70 Jahre nach dem Tod des Urhebers) nutzen und dienen in erster Linie den Rechteinhabern. Das Problem der Nichtverfügbarkeit vieler Werke gründet sich nicht zuletzt auch in diesen übermäßig langen Schutzfirsten, da viele Werke oft nicht neu aufgelegt oder neu vermarktet werden und trotzdem nicht freigegeben sind.   Die Länge der Schutzfristen kann durchaus diskutiert werden. Die derzeit gültigen 70 Jahre nach dem Ableben eines Urhebers entstammen natürlich einer Zeit, die langlebiger war und sind letztendlich eine Zif