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Zwischenruf: Sightseeing oder der U-Bahn-Pakt

Adventsgeschichten I. Die erste von vier Geschichten für die Adventssonntage. Keine Weihnachtsgeschichten im üblichen Sinn, aber in gewisser Weise dann doch.

Vor einigen Tagen war ich einmal wieder zu Besuch in meiner Heimatstadt. Seit meiner letzten Visite dort, war wieder einige Zeit ins Land gegangen. Viel zu viel Zeit, wie ich in den ersten Stunden meines Besuches glaubte und mich – wie jedes Mal zu Beginn eines Heimattrips – fragte, warum ich eigentlich weggegangen war. Gerade genug Zeit, wie ich ein ums andere Mal spätestens zur Halbzeit meines Aufenthaltes wieder erkenne, wenn mir die Gründe für Wegsziehen wieder vor Augen geführt worden sind.

Jedenfalls hatte ich mir ein paar Tage frei genommen, um ohne Zeitdruck herumbummeln und in Erinnerungen schwelgen zu können. Da mein Masochismus grundsätzlich nicht ausgeprägt genug ist, um in Großstädten im backofenheißen Auto und im Schneckentempo durch allzeit verstopfte Straßen zu mäandern und mein sportlicher Ehrgeiz nicht groß genug, um mich für eine winzige Parklücke mit anabolikatriefenden Fitnessstudiogeschöpfen zu duellieren, war ich auch dieses Mal zu Fuß und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, vor allem mit der U-Bahn. Nicht, dass diese wesentlich weniger Ähnlichkeiten mit Dantes Hölle hätte, als der Straßenverkehr, aber das Netz ist in dieser Stadt immerhin recht gut ausgebaut und da sie zu großen Teilen als Hochbahn verläuft, kann man mit ihr eine regelrechte Sightseeing-Tour machen.

Und genau das zu tun, war mein Plan. Entspannt bestieg ich die Bahn an der westlichen Endstation, setzte mich ans Fenster und ließ den Blick über die Dächer und an den Fassaden vorbei fliegen, sobald sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte.

Wie immer, wenn ich mit der U-Bahn durch meine Heimatstadt fahre, musste ich an meine Teenagerzeit denken und an meinen besten Freund aus jenen Tagen. Wir sind damals viel auf dieser Strecke unterwegs gewesen. In meiner Erinnerung beginnen oder enden fast alle wesentlichen Ereignisse von damals in einem der orange gestrichenen Abteile, mit den hellblauen Hartgummihaltegriffen an der Decke. Vielleicht ein Grund dafür, dass ich zu hellblauem Hartgummi noch heute ein durchaus ambivalentes Verhältnis habe.

Aber darüber hinaus hatten mein Freund und ich noch eine ganz besondere Beziehung zur U-Bahn. Eigentlich ja zu allen „Öffis“, aber die U-Bahn war das prägnanteste unter ihnen. Das Flaggschiff sozusagen. Wir zwei hatten nämlich einen geheimen Packt. Eine unausgesprochene Übereinkunft, wie sie nur Jungs in diesem Alter miteinander eingehen können.

Wir waren Schwarzfahrer. Bedingungslos, ohne Ausnahme und zutiefst von unserem Recht auf kostenlose Beförderung überzeugt. Wir hielten das Kassieren eines Fahrgeldes schlicht für moderne Wegelagerei. Ungerechtfertigt und daher mit Heldenmut zu bekämpfen. Keiner von uns beiden ist jemals mit einem gültigen Fahrausweis in einen Bus, eine Tram oder gar in eine U-Bahn gestiegen. Wir hatten raffinierte Frühwarnsysteme vor Kontrolleuren entwickelt, wir hatten eine schier endlose Litanei an Ausreden kreiert und ein Netzwerk von stillen Helfern installiert, die uns im Zweifelsfall ein Entwischen ermöglichen sollten. Nur einige wenige Male sind wir ertappt worden. Und noch jedes Mal sind wir entkommen.

Denn das war die eigentliche Trophäe. Der Grand Prix der Schwarzfahrer, die ewige Weltrangliste: nichts zu bezahlen, ganz gleich was passiert. Und mein Freund und ich, wir waren die unbesiegbaren Spitzenreiter. Ungeschlagen, bis heute.

Instinktiv blickte ich mich kurz um. Mein Spiegelbild grinste mich kopfschüttelnd aus einem der Zugfenster an, während wir in den ersten, im Untergrund liegenden Bahnhof einfuhren. Ich zuckte mit den Schultern und hob eine Augenbraue. Ja natürlich. Was für eine Frage. Auch an diesem Tag hatte ich selbstverständlich kein Ticket gelöst. Ehrensache. Manche Dinge ändern sich eben nie. Sollten sich auch nicht ändern.

Ich lachte in mich hinein, bei dem Gedanken, dass ich erst wenige Wochen zuvor einen Werbeprospekt für die hiesigen Verkehrsbetriebe getextet hatte. Im Auftrag einer befreundeten PR-Agentur. Nun, Geld von ihnen nehmen, war kein Problem. Sollten sie mich ruhig bezahlen. Aber bekommen, würden sie von mir keinen einzigen Cent. Niemals. Ganz sicher.

Ich musste an meinen Freund denken. Ich war schon kurz nach der Schule weggezogen, zum Arbeiten in eine andere Stadt. Er war geblieben. Eine Zeit lang hatten wir den Kontakt noch gehalten, aber irgendwann waren wir uns fremder geworden und hatten uns schließlich aus den Augen verloren. Viele Dinge ändern sich eben doch. Gut, das soll auch so sein.

Die Bahn hatte wieder ein Stück Hochstrecke erreicht und ich erkannte draußen eine der kleineren Einkaufsstraßen und das mächtige Gelände der alten Brauerei, das diesen Stadtteil auch heute noch prägt. Ich versuchte mich an den Namen der Biermarke zu erinnern und an den Geschmack diese heimischen Sorte, als sich ein alter Reflex bei mir meldete.

Wir hatten erneut eine Haltestelle passiert und am anderen Ende des Wagons waren einige Menschen eingestiegen. Die Bewegung eines der neuen Passagiere, nur aus dem Augenwinkel von mir bemerkt, hatte mich alarmiert. Der Mann hatte einen Ausweis gezogen, sobald sich die Türen geschlossen hatten. Ein Kontrolleur, ganz ohne Zweifel.

Möglichst unauffällig blickte ich in seine Richtung. Der Mann in dunklen Jeans und hellem Hemd hatte gerade begonnen, die Fahrscheine der im hintersten Teil des Wagons Sitzenden zu begutachten und so konnte ich ihn zunächst nur von hinten sehen. Dann war er mit der ersten Gruppe fertig und drehte sich in meine Richtung, um die nächsten Gäste nach ihren Fahrscheinen zu fragen.

Unwillkürlich nahm ich die Brille ab, um vermeintlich besser sehen zu können. Das Gegenteil war zwar der Fall, aber das war ohnehin egal. Ich hatte ihn auch schon beim ersten Hinsehen erkannt. Der Fahrkartenkontrolleur war mein alter Schulfreund. Mein Partner, mein Bruder im Bunde der Schwarzfahrer, mein Brother in Crime.

Ich war fassungslos. Dann packte mich für einen kurzen Moment eine vollkommen unangemessene Panik. Ich würde erwischt werden. Er kannte alle Tricks, er hatte sie mit mir erfunden. Es gab kein Entkommen. Ich würde bezahlen müssen. Zum ersten Mal in meiner langen Karriere als Fahrentgeldpreller. Der Mythos des Unbesiegten wäre dahin, er würde mir meine Trophäe entreißen. Ausgerechnet er. Dem ich wie sonst keinem je wieder vertraut hatte.

Und plötzlich wurde ich wütend. Wie war das nur möglich? Wie konnte das nur sein? Wie konnte er es wagen, die Seiten zu wechseln? Wie konnte er mich derart verraten?

Sicher, es war viele Jahre her und wir waren noch Kinder gewesen. Aber ein Packt ist ein Packt. Und manche Dinge dürfen sich nun mal nicht ändern. ‚Nein, Bürschchen’, dachte ich bei mir, ‚das hast Du Dir so gedacht. Aber Du hast die Rechnung ohne den Wirt gemacht. So leicht geb’ ich mich nicht geschlagen!’

Ich taxierte die Türen, kalkulierte meine Möglichkeiten. Bis zur nächsten Station war es noch eine gute Weile hin. Er würde die paar verbliebenen Passagiere bis dahin leicht abgefertigt haben. Seilschaften hatte ich heute keine an Bord, die für mich ein Ablenkungsmanöver inszeniert hätten. Könnte ich selber eins starten? Sollte ich auf ihn zugehen, ihn mit Wiedersehenfreude überrumpeln, in der Hoffnung, dass er die Frage nach dem Fahrschein dann einfach vergisst?

Nein, er war ein Profi. Er war es damals und er war es gewiss auch noch heute. Selbst wenn er jetzt im Dienste des Feindes stand. Und außerdem, er würde wissen, dass ich kein Ticket besaß. Ihm würde klar sein, dass ich unseren stummen Schwur niemals gebrochen hatte. Im Gegensatz zu ihm, diesem Verräter. Erneut machte sich Ärger in mir breit.

Nein, ich würde nicht flüchten und keine Tricks unternehmen. Diese Genugtuung würde er nicht bekommen. Ich würde untergehen, wie ein Mann. Besiegt, aber aufrecht.

Jetzt hatte er nur noch eine ältere Dame, dann würde er bei mir sein. Umständlich fistelte die Frau an ihrer Handtasche. Es dauerte, bis sie ihre Geldbörse hervorgekramt und mit steifen Fingern geöffnet hatte. Bald würden wir den nächsten Stopp erreichen. Die Dame blätterte unbeholfen durch Kassenzettel und Geldscheine. Nur wenige Augenblicke noch. Die Tonbandansage kündigte bereits den Namen der nahenden Haltestelle an. Noch immer war die Frau nicht fündig geworden. Gleich…

In diesem Moment blickte er zu mir. Er grinste, nickte, deutete, dass er gleich bei mir wäre. Der Zug hielt, zischend öffneten sich die Türen.

Ich stürmte nicht hinaus und davon. Mein alter Freund trat jetzt zu mir.

„Du weißt, dass ich keinen Fahrschein habe?“, ich reichte Ihm zur Begrüßung die Hand und versuchte mich an einem überlegenen Grinsen, noch ehe er etwas sagen konnte.

„Ja natürlich“, er lachte vergnügt, „das war mir schon klar, als ich eingestiegen bin. Kommst Du mit raus, bitte?“, er deutete in Richtung der Türen. Wir stiegen gemeinsam aus.

„Ich sag Dir was“, er sah mich jetzt sachlich aber entspannt an. Ich versuchte in seinen Augen zu lesen, konnte aber weder Triumph noch Scham ich ihnen erkennen. „Du ersparst mir einen Vortrag, wie ich es wagen konnte, die Seiten zu wechseln und unseren Schwarzfahrerpakt zu verraten und ich erspare Dir die Ausführungen darüber, wie viel Steuergeld jährlich durch Schwarzfahrer verloren geht und wie viele Kindergartenplätze und zusätzliche Lehrer etc davon bezahlt werden könnten. Einverstanden?“

„Deal“, willigte ich ein und blies demonstrativ Luft aus. Ohne sich davon irritieren zu lassen, füllte er ein Stück Papier aus, das er mir mit Nachdruck in die Hand gab.

„Hier geb’ ich Dir einen Zahlschein. Ich verlass mich drauf, dass Du den auch wirklich erledigst“, er sah mich erneut eindringlich aber freundlich an. „Wie geht’s Dir denn so?“

„Oh, gut, alles prima soweit“, mir war beim besten Willen nicht nach Smalltalk zumute.
„Na gut“, er schaute auf die Uhr, „ich muss weiter. Pass auf Dich auf und“, er zwinkerte kurz, „lass Dich nicht wieder erwischen.“ Dann drehte er sich um und ging hinüber zum Zug in der Gegenrichtung, der soeben eingefahren war.


„Ach übrigens“, schon in der Tür drehte er sich noch einmal um, „eins ist Dir schon klar, oder? Fahrkartenkontrolleure werden niemals kontrolliert!“ Er lachte laut auf, dann schloss sich die elektrische Schiebetür.

Unschlüssig stand ich allein auf dem leeren Bahnsteig. Ich blickte auf den Zahlschein, den er mir gegeben hatte, um zu sehen, was mich dieser zweifelhafte Spaß kosten würde. Aber in den weißen Zeilen auf dem rötlichen Vordruck standen keine Eurozahlen. Stattdessen las ich da:

‚Heute, 19:30, Stüberl im alten Brauhaus. Sei pünktlich! Die Zeche geht heute auf mich.’

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