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Zwischenruf: Von Aktienkursen und Wutbürgern

Berlin – Wenn am Sonntag kurz nach Schließung der Wahllokale in Berlin die ersten Hochrechnungen über die Bildschirme und Nachrichtenticker gelaufen sind, wird erwartungsgemäß von zwei großen Verliererinnen berichtet werden. Zum einen von der FDP, die mit dem Auszug aus dem Berliner Senat einen weiteren wichtigen Schritt hin zu ihrer endgültigen Vaporisierung nimmt und zum anderen von Renate Künast, die dann gerade den Stimmenanteil ihrer bündnisgrünen Partei in etwa verdoppelt hat und zur zweitstärksten Kraft in der Bundeshauptstadt aufgestiegen ist.

Szenenwechsel, New York – an einem strahlend sonnigen Mittwochmittag legt der Vorstandsvorsitzende des zweitgrößten Leuchtdiodenherstellers der Welt die Zahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr vor. 24% Plus beim Umsatz, 28% Zuwachs gar beim Gewinn vor Steuern. Das beste Ergebnis der Unternehmensgeschichte beläuft sich in absoluten Zahlen auf 6,2 Milliarden US-Dollar, mehr Geld, als alle übrigen Einwohner von Halladay, Texas, der Heimatstadt des Vorstandsvorsitzenden, zusammen in Ihrem Leben jemals verdienen werden. Noch während die Bilanzpressekonferenz läuft, bricht der Aktienkurs dieses wichtigen Nasdaq-Titels um beinahe 10% ein. In der folgenden Viertelstunde zieht er den ganzen High-Tec-Sektor um über 5% mit in die Tiefe, bis Handelschluss hat die Wall Street insgesamt rund 3% eingebüßt und die Finanzwelt blickt bereits sorgenvoll auf die Öffnung der technologielastigen Börsen in Asien. Der Rücktritt des Vorstandvorsitzenden noch am selben Abend ist da schon kaum noch ein Gesprächsthema.

Copy-Paste-Fehler in der Berichterstattung? Paradoxe Einzelfälle? Ausnahmen von der Regel? Keineswegs.

Das Bessere ist der Feind des Guten. Auch dann, wenn Besseres nur erwartet wurde und dann eben nur Gutes eintrifft. Enttäuschte Erwartungen sind der gemeinsame Nenner dieser beiden Episoden und solche bestimmen das kollektive Empfinden im frühen 21. Jahrhundert zuweilen stärker als reale Unglücke, von realem Glück ganz zu schweigen.

In einer Welt, die zur Gänze auf Zukunft setzt und in der Wachstum das Maß aller Dinge ist, lebt inzwischen eine Gesellschaft, der das Versprechen, „Dir wird es morgen genauso gut gehen, wie heute“, beinahe schon als Drohung erscheint.

Wer zum siebten Geburtstag einen Gameboy geschenkt bekommt, dem erscheint das iPad zum 12. nur logisch und nicht mehr wirklich Anlass zur Freude. Und wer sich ein Jahr nach dem BWL-Abschluss mit dem ersten eigenen Gehalt bereits einen X3 City-SUV least, der kann wohl mit Fug und Recht erwarten, drei Jahre später das Häuschen am Stadtrand finanziert zu bekommen, für das seine Eltern noch 30 Jahre hätten arbeiten müssen.

Wohlstand ist wie eine Droge, die ständig nach einer Erhöhung der Dosis verlangt. Und daher wird nachgelegt. Von Politikern genau wie von Eltern. Von der Werbung ebenso wie von Versicherungen oder den Zeugen Jehovas. Noch strahlendere Zähne, noch weißere Wäsche. Noch schönere Ferien, noch bessere Bildung, noch viel mehr sichere Sicherheit und noch weitaus mehr göttlichen Beistand für ein noch viel segensreicheres Himmelsreich. Und selbstverständlich das alles immer noch viel billiger, einfacher und noch wesentlich schneller, als bisher.

Und wenn es dann nicht so kommt? Wenn es zu Weihnachten einmal nur zum koreanischen Tablet-PC reicht und die Bank bei der neuen Hypothek plötzlich vorsichtig wird? Dann kommt ganz schnell Panik auf. Dann erscheint Verlangsamung bereits als Stillstand und Verweilen als Absturz. Dann brechen die Börsen ein und aus Zweitplatzierten werden Verlierer. Und dann kommt die Wut.

Ob Stuttgart 21 oder Protestmärsche gegen den Euro. Ob Häme und beißender Zynismus in Tageszeitungen und Magazinen oder schäumende Verbalattacken im Internet, es ist diesmal keine ausgebeutete Unterschicht, die rebelliert, es ist nicht Hunger, der eine verarmte Meute auf die Straßen treibt. Es ist eine Mittelschicht, die über Jahrzehnte hinweg davon ausgegangen ist, dass Bäume endlos in den Himmel wachsen, wenn man sie nur lang genug gießt und die noch nicht glauben kann, dass es nicht mehr Wasser gibt, als Regen vom Himmel fällt.

Das mag enttäuschen, ändern wird es wohl nichts. Ebenso wie dieser Artikel hier. Wenngleich der Autor die höchsten Erwartungen daran knüpft.

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