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K(reat)I(v)?

 

KI generiertes Bild einer alten Schreibmaschine vor einem Bücherregal

Wir führen einen Kampf. Schon wieder. Oder immer noch? Es sind die letzten Scharmützel noch nicht recht vorbei, jene um Raubkopien, Urheberrecht und faire Entlohnung der Kreativen bei elektronischer Verleihe et cetera pp. Wir sind noch müde, geschunden. Und doch müssen wir uns aufs Neue formieren. Es ist wie in Mittelerde. Der Rauch über Helms Klamm ist noch nicht verzogen, da schickt uns Mordor noch größere Heerscharen an Orks, Uruk-hais und Nazgûls.

Und diesmal könnte es zum Endgame kommen. Denn jetzt geht es um die Substanz. Drehte es sich bislang im Wesentlichen „nur“ ums Geld, „nur“ um unseren Lebensunterhalt und „nur“ um unsere wirtschaftliche Existenz, steht diesmal unser Wesenskern in Frage. „Die generative KI kann, was Ihr bisher vorgabt allein zu können“, verhöhnt uns Thanos und droht, die Hälfte von uns verschwinden zu lassen. Mindestens. Wenn nicht gleich alle.

„Aber nein“, winken wir ab; erleichtert fast. „Diese ‚Intelligenz‘“, so selbstversichern wir uns, „kann ja nur ausspucken, was sie zuvor aufgesaugt hat, im Netz, aus alldem, was wir und unseres Gleichen in Jahrhunderten geschaffen haben.“ Eine Sauerei sei das natürlich und wir wollen gefragt und dafür entlohnt werden. Aber wirklich „kreativ“, nein, nein, das sei nur der Mensch.

An diese Stelle möchte ich kurz innehalten. Lasst uns einen Moment Schild und Schwert für einen Augenblick des Philosophierens beiseitelegen und diesen Gedankenfaden aufheben und verfolgen. Die Frage: was ist Kreativität.

Chat GPT & Co sind Sprachmodelle. Sie „kreieren“ Sätze, indem Sie auf jedes Wort das am wahrscheinlichsten passende nächste folgen lassen. Und welches dieses ist – diese Wahrscheinlichkeit – hat der Algorithmus gelernt, aus all dem, was es bereits an Sätzen, Aufsätzen, Gedichten und Romanen, Gebrauchsanweisungen, Doktorarbeiten, Verkehrsverordnungen und Wegbeschreibungen bereits gibt. Im Internet.

Aber ist es nicht genau das, was wir Menschen auch tun, wenn wir formulieren, wenn wir sprechen und schreiben. Suchen wir nicht das Wort, das am besten als nächstes passt und schöpfen dabei aus dem, was wir im Lauf unseres Lebens gelernt haben? Zuerst von den Eltern, dann von Verwandten, den Freunden, Lehrern, dann aus Büchern, Filmen, Zeitungsartikeln? Berechnen wir nicht, unbewusst zwar, die Wahrscheinlichkeit, welches Wort, welcher Satz, welche Geschichte von uns erwartet wird? Und nennen das dann „kreativ“.

„Aber nicht doch“, winken wir abermals ab. „Im Alltag vielleicht und all jene, die eben nicht kreativ sind, machen das so, gewiss.“ Aber die Verse, die Shakespeare formuliert hat, die Wortkaskaden eines Thomas Mann oder die als Blütenpracht getarnten Wortpfeile Salman Rushdies, die sind nicht bloß wiedergegeben, die sind originär erschaffen, Ausfluss reiner Kreativität. Genau wie meine Werke.

Ist das so?

Die Kreiszahl Pi ist, wie wir wissen, in ihren Dezimalen unendlich. Wenn man nun, wie wir es als Kinder taten, um eine Geheimsprache zu benutzen, nach einem beliebigen System Ziffern zu Buchstaben macht – beispielsweise eine erste 0 zum A, die erste 1 zum B und so weiter, die zweite 0 zum K, die zweite 1 zum L und eine drittfolgende 0 zum U, bevor die fünft folgende 0 wieder A bedeutet – dann finden sich in den Ziffern von Pi schon bald Worte. Irgendwann ganze Sätze, die Sinn ergeben. Und da Pi unendlich ist, findet sich jede erdenkliche Kombination aus Buchstaben in dieser Kette aus Ziffern. Mithin also jeder jemals gesprochene Satz, jedes Sonett, jedes Mahnschreiben, jedes Hollywooddrehbuch, hat Pi schon vorweggenommen. Auch dieser Text, obgleich ich ihn in diesem Augenblick erst formuliere, steckt irgendwo bereits – Wort für Wort – so schon in den Tiefen von Pi.

Ist Pi also kreativ? War Archimedes Gott, der alles je Erdachte und alles noch zu Erdenkende in diese kleine, unscheinbare Funktion – Umfang geteilt durch Durchmesser eines Kreises – gepackt hat?

Oder ist das nicht vielmehr alles Zufall. Pures Chaos und besteht nicht mithin die Kreativität darin, im richtigen Moment das Richtige aus diesem Karpfenteich der Wortketten herauszufischen? Nicht mehr, aber auch nicht weniger?

Warum schreibe ich das? Will ich uns selbst das Messer in den Rücken rammen, den Dämonen, die uns in die Bedeutungslosigkeit verbannen wollen, neue Munition liefern? Ihren Beweis führen, dass die Maschine, die so viel mehr über unser Publikum weiß, viel besser im Wörterteich fischen kann?

Nein, gewiss nicht. Woran ich rühren möchte, bei all dem Kampf, dem Stress, dem Krampf, ist ein wenig Demut.

Denn allzu oft vermisse ich die. Sei es bei unseren Debatten um Werkschutz und Verbreitungstantiemen, sei es bei all den anderen Auseinandersetzungen, mit denen unsere Gesellschaften in dieser verwundenen Zeit zu ringen haben, der Gedanke, dass jedes Wort, das ich je geschrieben habe und noch schreiben werde, ebenso bereits irgendwo durch diese eine mathematische Gleichung definiert ist, wie jeder Gesetzestext, jedes Klimamanifest, jeder Friedensplan und jedes Hassposting auf Twitter. Und dass niemand von uns weiß, warum das so ist, der Schöpfer von Chat GPT so wenig wie der von „Krieg und Frieden“, könnte ein Ausgangspunkt sein für Verständigung – oder zumindest ein Ruhepunkt für eine kurze Meditation, bevor wir Schild und Schwert wieder ergreifen.

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